„Früh morgens wurden wir von Papa aus dem Schlaf gerissen.
Er befahl uns, uns sofort anzukleiden. Dann packte er mich, nahm mich unter den
Arm und stürmte mit mir aus dem Haus. Draussen war es noch finster, es stürmte
und überall war Wasser. Papa stieg mit mir auf den Deich und setzte mich
zuoberst ab. Dann schärfte er mir ein, hier zu warten, bis er wieder käme und
verschwand in der Dunkelheit, um meine Mutter und meine Schwestern zu holen. Da
sass ich nun, alleine in der Dunkelheit, in diesem kalten Wintersturm und
musste zusehen, wie die Flut gegen den Deich krachte und immer höher stieg. Ich
hatte das Gefühl, Papa würde nie mehr zurückkehren.“
Der Deich ist gebrochen, die Flut strömt ins Dorf. |
So dramatisch beschreiben Überlebende ihre Erlebnisse aus
der Katastrophennacht an diesem frühen Sonntagmorgen, dem 1. Februar 1953. Das
Zusammentreffen einer Springflut mit einem gewaltigen Weststurm vor der
niederländischen Küste liess die Wellen mit solcher Gewalt ans Ufer krachen,
dass die Deiche an vielen Orten brachen und das Wasser ungehindert in das tiefliegende
Land strömte.
Schon am Samstagabend kündigte sich die verheerende
Katastrophe an. Obwohl Ebbe war, lag das Wasser der Nordsee so hoch wie sonst
üblicherweise bei Flut. Trotzdem ahnte damals noch niemand, was sich einige
Stunden später abspielen würde.
Menschen flüchten, lassen Hab und Gut zurück. |
Grosse Teile der niederländischen Provinzen Zeeland,
Zuid-Holland und Teile von Noord-Brabant wurden von der mächtigen Sturmflut
getroffen und unter Wasser gesetzt. Über 1800 Männer, Frauen und Kinder
ertranken in den Fluten dieser Naturkatastrophe, die noch heute von vielen
Niederländern schlicht „de ramp“ die
Katastrophe genannt wird. Allein das Dorf Oude Tonge verlor in dieser Nacht
und den Stunden danach einen Zehntel seiner Bevölkerung. Besonders tragisch ist
das Schicksal jener jungen Frau, die am Samstagabend ihr Kind gebar. Stunden
später entriss ihr die unbarmherzige Flut das Baby. Es wurde nie gefunden. Doch
auch die junge Mutter überlebte die Nacht nicht.
Ein überflutetes Dorf. |
Viele Menschen suchten auf dem Dach ihres Hauses Schutz. So
auch jener junge Mann, der sich zusammen mit seinem Bruder und seinem Vater auf
das Dach gerettet hatte. Das wilde Wasser hatte das Dach vom Rest des Hauses
abgehoben und der Sturm trieb das nun frei schwimmende Dach böse schaukelnd und
schlingernd über das Wasser. Schliesslich vermochten sich Vater und Bruder
nicht mehr zu halten und stürzten in die Flut. „Das war das letzte Mal, dass
ich sie sah“, erzählt der betagte Mann Jahrzehnte später unter Tränen. „Die See riss sie fort, ich habe sie nie
gefunden.“
Viele Überlebende mussten über 24 Stunden in ihrer
misslichen Lage ausharren, da die Rettungsmassnahmen erst im Verlaufe des
Montags so richtig anliefen. Bis dann ahnten die Behörden in den nicht
betroffenen Gebieten noch nicht, wie schlimm die Situation im
Katastrophengebiet ist. Einzig einige Funkamateure hielten aus der Krisenregion
Kontakt mit der Aussenwelt. Heimtückischerweise frischte der Sturm am
Sonntagnachmittag noch einmal auf; viele Häuser, die bei der ersten Sturmflut
beschädigt wurden, stürzten nun noch gänzlich ein. Viele Menschen, die bis zu
diesem Zeitpunkt überlebt hatten, fanden nun doch noch den Tod.
In kleinen Booten werden Überlebende "eingesammelt". |
Allzu oft werden in Katastrophen Helden geboren. So auch
an diesem 1. Februar 1953. Bei Nieuwekerk aan den IJssel drohte ein Deich zu
brechen. Zwei junge Männer riskierten ihr Leben, indem sie ein Fischerboot in
die entstehende Öffnung manövrierten und damit das Loch im Deich stopften. Ihre
heldenhafte Tat verhinderte die Überschwemmung grosser Teile Zuid-Hollands und
rettete wohl vielen Menschen das Leben.
Die Holländer haben der Nordsee viel zu verdanken. Im 17.
Jahrhundert war sie das Tor zur weiten Welt. Holländische Seefahrer entdeckten
neue Erdteile, trieben Handel überall auf der Welt und brachten exotische
Gewürze, Blumenzwiebeln und andere Waren nach Hause, die sie teuer verkauften. Reichtum
und Wohlstand waren die Folge.
Doch die Nordsee fordert auch ihren Tribut, wenn ihre
wütenden Fluten übers Land hereinbrechen. Nur zu gut erinnere ich mich an die
Worte eines Niederländers, der mir einmal erklärte: „Die Nordsee ist unser
bester Freund und gleichzeitig unser schlimmster Feind.“
Ruhet in Frieden, ihr Opfer von „de ramp“.