Dienstag, 8. Oktober 2013

"Sammlet ehr Märggeli?"

Neulich an der Kasse eines Grossverteilers. Vor mir eine Dame im Rentenalter, die offenbar gerade ihren Montagvormittagseinkauf erledigt. Oder eher ihren Montagmittagseinkauf, schliesslich ist es kurz vor halb eins. Hinter mir ein Mann im erwerbstätigen Alter, der nur ein Getränk und ein Sandwich auf das Band legt.

Die Kassiererin scannt die Artikel der älteren Dame, eines ums andere, mit Bewegungen, welche irgendwie mechanisch wirken. Zwieback, ein Frühstücksmüesli, Lippenstift …? Mein Blick wandert automatisch zum Mund der Dame. Hm, muss für ihre Tochter sein…

Die Kassiererin nimmt den letzten Artikel in die Hand. Doch der Scanner erfasst das Ding nicht. Offenbar wurde die Etikette mit dem Barcode auf diesem Hinterschinken – beziehungsweise auf seiner Verpackung – nicht sorgfältig genug aufgeklebt. Sie nimmt den Handscanner und lässt das rote Licht aus den unterschiedlichsten Winkeln auf den Barcode fallen. Kein Erfolg; auch nicht, nachdem sie energisch über das Etikett gerieben hat.

Obwohl ich hinten keine Augen habe, spüre ich förmlich, wie der Typ hinter mir auf die Uhr schaut. Es ist naheliegend, dass er einfach möglichst schnell sein Sandwich verdrücken und dann wieder zu seiner stressigen Arbeit will. Inzwischen hat die Kassiererin den Code manuell eingetippt und verkündet die Summe, gefolgt von der Frage: „Heit ehr no en Supercard?“

Die Rentnerin nickt und macht sich in ihrem Portemonnaie auf die Suche nach besagter Karte. Mein Gott, weshalb beherbergt das Portemonnaie einer Dame dieser Altersklasse einen derartigen Kärtchenwald? Die Suche zieht sich in die Länge, während ein leises Trommeln an mein Ohr dringt. Ich blicke kurz über meine Schulter. Der Mann hinter mir trommelt mit den Fingerspitzen auf das Band. Nervosität liegt in der Luft.

Endlich findet die Dame ihre Supercard, zwischen der Visitenkarte ihrer Spitex-Betreuerin und der Kundenkarte eines anderen Grossverteilers. Die Karte wechselt in die Hand der Kassiererin, wird gescannt und wandert wieder zur Kundin zurück, welche sie äusserst sorgfältig verstaut, um sie nächstes Mal schneller wieder zu finden. Dann ergreift sie eine Hunderternote und übergibt sie der Kassiererin, um gleichzeitig zu verkünden: „Fünfunddreissig Rappen habe ich noch!“

Sie öffnet das Münzfach ihres Portemonnaies und dreht und wendet das Ding, offenbar, um ein wenig mehr Licht zu erhaschen. „Ach, ich sehe einfach nicht mehr gut!“, jammert sie und kurzerhand leert sie den gesamten Inhalt des Münzfaches auf den Tresen. Gleichzeitig höre ich hinter mir einen langgezogenen Seufzer, dann spüre ich warmen, nicht gerade geruchsneutralen Atem in meinem Nacken.



Ein Einfränkler fällt herunter, kullert über den Boden und bleibt vor meinen Füssen liegen. Ich habe ihn auf und halte ihn der alten Dame hin. „Der ist Ihnen runtergefallen.“ Die Kassiererin hat inzwischen 35 Rappen aus dem Münzhaufen entnommen und bittet die Kundin, den Rest wieder einzupacken. Kurz darauf reicht sie ihr das Retourgeld zusammen mit der Kassenquittung.

Doch wer glaubt, dass das Einkaufserlebnis der Rentnerin damit zu einem Ende gekommen ist, sieht sich mit anderen Tatsachen konfrontiert. Erneut höre ich die Stimme der Kassiererin: „Sammlet ehr Märggeli?“, vorgetragen in einer Langsamkeit, wie es nur eine Bernerin hinkriegen kann. Und ja, natürlich sammelt die Kundin Märggeli, schliesslich sind wir ja ein Volk von Jäger und Sammlern. Langsam zählt die Kassiererin die Märggeli ab, reisst einige von der Rolle und übergibt sie der Kundin, um sich dann von ihr zu verabschieden und ihr einen schönen Tag zu wünschen, ohne ihr Gesprächstempo auch nur im geringsten zu steigern.

Kommt ihnen das bekannt vor? An der Supermarktkasse kommen eben die unterschiedlichsten Leute zusammen: der Achtjährige, der nur seinen Kaugummi kaufen will und die paar Zehnräppler schon auf den Tresen legt, lange bevor der Artikel gescannt ist. Die Oma, die für ihren täglichen Haushaltseinkauf alle Zeit der Welt hat und der gestresste Erwerbstätige, der selbst in der Mittagspause noch vom Stress verfolgt wird. Da ist wahrlich Toleranz gefragt. Vielleicht könnte man ja auch für einmal auf das Scannen der Supercard verzichten, wenn man sie nicht auf Anhieb findet, denn die paar Punkte, welche einem da durch die Lappen gehen, sollten eigentlich niemandem schlaflose Nächte bereiten. Und vielleicht könnte man den Stress ja auch einmal im Büro oder auf der Baustelle lassen? Wenn das nächste Mal Ihr Geschäftstelefon klingelt, lassen Sie es doch einfach einmal länger klingeln. Schliessen Sie kurz Ihre Augen und atmen Sie ganz tief durch. Falls das Telefon danach immer noch klingelt, können Sie den Anruf immer noch entgegen nehmen. Probieren Sie es aus! Es wirkt Wunder!

Und an der Supermarktkasse wünsche ich Ihnen viel Toleranz!

Und genauso viel Geduld!

Donnerstag, 3. Oktober 2013

Ironie des Schicksals

Das Schicksal folgt manchmal einer komischen Logik. Nein, eigentlich folgt es überhaupt keiner Logik. Wie sonst lassen sich solche Schicksale erklären, wie das folgende, auf welches ich kürzlich gestossen bin?

Robert Douglas Spedden wurde am 19. November 1905 geboren und lebte zusammen mit seinen vermögenden Eltern in den USA. Den Winter verbrachte die Familie üblicherweise in Europa, so auch den Winter 1911/1912, als sie in der Mittelmeerregion unterwegs war. Im April machten sie sich auf die Heimreise. In Cherbourg bestiegen sie einen Liniendampfer nach New York. Der Name des Schiffes: Titanic. Es gibt ein Foto, das den kleinen Douglas an Deck des Schiffes zeigt, wie er mit seinem Kreisel spielt.

Douglas Spedden spielt an Deck der Titanic mit seinem Kreisel

Die nun folgende Schiffskatastrophe ist uns allen bekannt. Aber die Speddens hatten Glück: Die Mutter erwachte nach der Kollision mit dem Eisberg wegen den unüblichen Maschinengeräuschen. Sie verliess die Kabine und stellte fest, dass das Schiff bereits leicht in Schieflage war. Schnell weckte sie ihren Mann, ihren kleinen Sohn sowie die beiden jungen Frauen, die als Dienst- und Kindermädchen mit ihnen mitfuhren. Zusammen erreichten sie das Bootsdeck. Da sie früh dran waren, gelangten sie noch ohne Hektik in ein Rettungsboot und da zu diesem Zeitpunkt keine Frauen und Kinder in der Nähe waren, durfte auch der Familienvater einsteigen.

Der kleine Douglas zeigte sich offenbar ziemlich unbeeindruckt von der ganzen Katastrophe. Er soll im Rettungsboot fast die ganze Zeit verschlafen haben. Schliesslich gelangte die junge Familie unbeschadet nach Hause.

Als Erinnerung an diese Reise bekam Douglas zu Weihnachten 1913 von seiner Mutter ein Bilderbuch, das sie speziell für ihn gezeichnet und geschrieben hatte. Es war die Geschichte eines kleinen Teddybären, der mit seinem Besitzer Douglas durch Europa reist und danach den Untergang der Titanic miterlebt. Später wurde das Buch unter dem Titel „Polar, der Titanic-Bär“ veröffentlicht.

Für einmal ein Titanic-Schicksal mit Happy-End? Leider nein. Im Sommer 1915 rannte der inzwischen neunjährige Douglas einem Ball hinterher auf die Strasse, wurde von einem Auto erfasst und kam ums Leben. Es war eine der ersten Autounfälle in den Vereinigten Staaten.


Ist das fair? Man überlebt den Untergang der Titanic und stirbt danach bei einem simplen Verkehrsunfall? Vielleicht ist es auch einfach ein Hinweis darauf, das Leben zu geniessen, solange man es kann. Überlebende der Titanic-Katastrophe und anderer Tragödien betonten und betonen oft, wie sehr dieses Unglück ihnen vor Augen geführt habe, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Und dass man jeden Tag geniessen soll. Nehmen wir uns doch ein Vorbild und betrachten wir jeden Tag als Geschenk! Auch wenn wir nie ein Schiff besteigen sollten. Aber eine Strasse überqueren wir alle einmal…