Dienstag, 30. Januar 2018

Die Flut kam am frühen Sonntagmorgen


„Früh morgens wurden wir von Papa aus dem Schlaf gerissen. Er befahl uns, uns sofort anzukleiden. Dann packte er mich, nahm mich unter den Arm und stürmte mit mir aus dem Haus. Draussen war es noch finster, es stürmte und überall war Wasser. Papa stieg mit mir auf den Deich und setzte mich zuoberst ab. Dann schärfte er mir ein, hier zu warten, bis er wieder käme und verschwand in der Dunkelheit, um meine Mutter und meine Schwestern zu holen. Da sass ich nun, alleine in der Dunkelheit, in diesem kalten Wintersturm und musste zusehen, wie die Flut gegen den Deich krachte und immer höher stieg. Ich hatte das Gefühl, Papa würde nie mehr zurückkehren.“

Der Deich ist gebrochen, die Flut strömt ins Dorf.

So dramatisch beschreiben Überlebende ihre Erlebnisse aus der Katastrophennacht an diesem frühen Sonntagmorgen, dem 1. Februar 1953. Das Zusammentreffen einer Springflut mit einem gewaltigen Weststurm vor der niederländischen Küste liess die Wellen mit solcher Gewalt ans Ufer krachen, dass die Deiche an vielen Orten brachen und das Wasser ungehindert in das tiefliegende Land strömte.

Schon am Samstagabend kündigte sich die verheerende Katastrophe an. Obwohl Ebbe war, lag das Wasser der Nordsee so hoch wie sonst üblicherweise bei Flut. Trotzdem ahnte damals noch niemand, was sich einige Stunden später abspielen würde.

Menschen flüchten, lassen Hab und Gut zurück.

Grosse Teile der niederländischen Provinzen Zeeland, Zuid-Holland und Teile von Noord-Brabant wurden von der mächtigen Sturmflut getroffen und unter Wasser gesetzt. Über 1800 Männer, Frauen und Kinder ertranken in den Fluten dieser Naturkatastrophe, die noch heute von vielen Niederländern schlicht „de ramp“ die Katastrophe genannt wird. Allein das Dorf Oude Tonge verlor in dieser Nacht und den Stunden danach einen Zehntel seiner Bevölkerung. Besonders tragisch ist das Schicksal jener jungen Frau, die am Samstagabend ihr Kind gebar. Stunden später entriss ihr die unbarmherzige Flut das Baby. Es wurde nie gefunden. Doch auch die junge Mutter überlebte die Nacht nicht.

Ein überflutetes Dorf.

Viele Menschen suchten auf dem Dach ihres Hauses Schutz. So auch jener junge Mann, der sich zusammen mit seinem Bruder und seinem Vater auf das Dach gerettet hatte. Das wilde Wasser hatte das Dach vom Rest des Hauses abgehoben und der Sturm trieb das nun frei schwimmende Dach böse schaukelnd und schlingernd über das Wasser. Schliesslich vermochten sich Vater und Bruder nicht mehr zu halten und stürzten in die Flut. „Das war das letzte Mal, dass ich sie sah“, erzählt der betagte Mann Jahrzehnte später unter Tränen.  „Die See riss sie fort, ich habe sie nie gefunden.“

Viele Überlebende mussten über 24 Stunden in ihrer misslichen Lage ausharren, da die Rettungsmassnahmen erst im Verlaufe des Montags so richtig anliefen. Bis dann ahnten die Behörden in den nicht betroffenen Gebieten noch nicht, wie schlimm die Situation im Katastrophengebiet ist. Einzig einige Funkamateure hielten aus der Krisenregion Kontakt mit der Aussenwelt. Heimtückischerweise frischte der Sturm am Sonntagnachmittag noch einmal auf; viele Häuser, die bei der ersten Sturmflut beschädigt wurden, stürzten nun noch gänzlich ein. Viele Menschen, die bis zu diesem Zeitpunkt überlebt hatten, fanden nun doch noch den Tod.

In kleinen Booten werden Überlebende "eingesammelt".

Allzu oft werden in Katastrophen Helden geboren. So auch an diesem 1. Februar 1953. Bei Nieuwekerk aan den IJssel drohte ein Deich zu brechen. Zwei junge Männer riskierten ihr Leben, indem sie ein Fischerboot in die entstehende Öffnung manövrierten und damit das Loch im Deich stopften. Ihre heldenhafte Tat verhinderte die Überschwemmung grosser Teile Zuid-Hollands und rettete wohl vielen Menschen das Leben.

Die Holländer haben der Nordsee viel zu verdanken. Im 17. Jahrhundert war sie das Tor zur weiten Welt. Holländische Seefahrer entdeckten neue Erdteile, trieben Handel überall auf der Welt und brachten exotische Gewürze, Blumenzwiebeln und andere Waren nach Hause, die sie teuer verkauften. Reichtum und Wohlstand waren die Folge.

Doch die Nordsee fordert auch ihren Tribut, wenn ihre wütenden Fluten übers Land hereinbrechen. Nur zu gut erinnere ich mich an die Worte eines Niederländers, der mir einmal erklärte: „Die Nordsee ist unser bester Freund und gleichzeitig unser schlimmster Feind.“
Ruhet in Frieden, ihr Opfer von „de ramp“.